Buddhistische Gemeinschaft
Jōdo Shinshū Deutschland e.V.

Ansprache vom 10.12.2017

Am 8.12. ist Jōdō-e (成道会), das Fest, bei dem die Erleuchtung des Buddha gefeiert wird. Ich bin dankbar, dass ich heute eine Ansprache zu diesem Thema halten darf. Besonders freut mich, dass auch die Zen-Gruppe von Kishida-rōshi heute der Zeremonie beigewohnt hat.

Die Buddhawerdung Śākyamunis, deren Feiertag der 8.12. ist, kann man als das größte denkbare erfreuliche Ereignis bezeichnen. Wer dieser Tage fernsieht, sieht andererseits viele Dokumentationen, die sich mit dem Ausbruch des pazifischen Krieges befassen. Am 7.12., einen Tag vorher, geschah der Angriff auf Pearl Harbour. Das erfreulichste und das schrecklichste Ereignis, Nirwana und Samsara, liegen - zumindest nach westlichem Kalender - sehr nahe beieinander.

Was heißt „Buddha werden“? Was ist überhaupt Buddhaschaft?

„Der Geist des Buddha ist das Große Mitgefühl.“
仏心とは大慈悲これなり。(注釈版 p.102)

So heißt es im Kontemplationssutra. Mitgefühl empfinden wir, wenn wir Menschen oder ganz allgemein andere Lebewesen leiden sehen. Der mitfühlende Mensch hält es nicht aus, wenn er andere leiden sieht; er möchte helfen. Er möchte, dass es den anderen gut geht und von ihrem Leiden befreit sind.

Im Buddhismus gibt es im allgemeinen zwei Stufen. Auf Japanisch nennt man sie jiri rita (自利利他).
Jiri heißt „sich selbst nützen“, rita heißt „den anderen nützen“. Für sich selbst Befreiung anstreben und für sich selbst Befreiung anstreben.

Der erste Teil dieser Doppelformulierung wird manchmal auch als „Weg der Befreiung“ bezeichnet (gedatsudō 解脱道) Zuerst muss man erkennen, dass man leidet. Die „Wahrheit vom Leiden“ ist die erste der vier Edlen Wahrheiten. Alle Lebewesen, die in dieser Welt geboren werden, treffen auf leiden: in Form von Alter, Krankheit, Tod, Geburt, Getrenntsein von Liebem, Zusammensein mit Verhaßten usw. Dieses Leiden – so die zweite Edle Wahrheit ¬– hat einen Grund: das Haben- bzw. Nicht-Haben-Wollen, die sogenannte Gier. Es gibt aber ein Ende des Leidens, das Nirwana (3. Edle Wahrheit) und zur Überwindung des Leidens führt der Achtfache Pfad mit seinen Lebensregeln. (4. Edle Wahrheit).
Kurz gesagt, sucht man auf dem Weg der Befreiung nach der Ursache des Leidens, und von dieser Ursache versucht man sich dann zu befreien. Man macht sich deutlich die Kette der Verursachung klar (es gibt dabei die sogenannte zwölfgliedrige Kette der Verursachung) und dann sucht man nach dem schwächsten Glied der Kette, um es fallen zu lassen. Das Hauptstrategie ist also das „Wegwerfen, Fallenlassen“ (auf Japanisch SHA 捨) Dieser Weg führt zur sogenannten Arhatschaft Das ist noch nicht die Buddhaschaft, aber eine bestimmte Stufe der „Heiligkeit“, die zur Zeit des Buddha unter seiner Anleitung sehr viele Menschen erreicht haben. (1)

Befreiung klingt auf Deutsch zunächst so, als würde man etwas fallenlassen, was man ohnehin ablehnt. Manche Menschen sagen „Ich hasse meine Arbeit. Jetzt werfe ich sie hin. Dann bin ich endlich frei. Hartz 4 und der Tag gehört Dir.“ – Das ist natürlich nicht Entsagung, die gemeint ist, sondern vielmehr das Gegenteil: Anhaftung. Man hängt an etwas Angenehmen und geht dem Unangenehmen aus dem Weg.
Die Entsagung, die hier gemeint ist, ist, wie erwähnt, die Entsagung einer Gier. Einfachste Beispiel ist das Zigaretten rauchen. Für Menschen wie mich, die niemals rauchen, ist das sehr einfach. Inzwischen gibt es in Deutschland schon viele „Zigaretten-Arhats“. Aber für einen Raucher ist das extrem schwer. Dies ist ein gutes Beispiel, weil es zeigt, dass Entsagung, wenn sie denn geglückt ist, keineswegs mir Leiden verbunden ist. Ein Nicht-Raucher vermisst nichts.

Andererseits, wenn dieses einfache Prinzip schon das Grundprinzip des Befreiungsweges ist, so zeigt das auch seine Grenzen. Die Befreiung – z.B. die von Rauchen – nützt hauptsächlich mir selbst. Ich spare z.B. Geld und schone meine Gesundheit. Aber von den anderen ist soweit noch gar nicht die Rede gewesen. Gewiss, Befreiung, wenn sie denn in allen Dimensionen stattfinden soll, ist ein fast unerreichbares Ideal. Ich habe noch nie jemanden gesehen, dem ich die perfekte Beherrschung in allen Dingen zuschreiben würde. Und trotzdem ist sie noch etwas sehr Beschränktes, solange sie sich nur auf den eigenen Nutzen abzielt. Darum spricht man in so gut wie allen Schulen des japanischen Buddhismus in einem solchen Falle vom „Buddhismus des Kleinen Fahrzeugs“ (2), der, wie erwähnt nur zur Arhatschaft aber nicht zur Buddhaschaft führt.

Zum Erlangen der Buddhaschaft bedarf es noch einer weiteren Dimension. Man muss einem Weg folgen, der den anderen Wesen nützlich ist (利他).
Im Zen-Buddhismus (aber auch in anderen Schulen des japanischen Buddhismus) zitiert man gerne die „Vier Unermesslichen Gelübde“. Jedes dieser vier Gelübde enthält schon den Weg der Buddhaschaft in sich, am klarsten aber das erste Gelübde:

衆生無辺誓願度 “Es gibt unermesslich viele Wesen. Ich gelobe, sie alle zur Befreiung zu führen.“

Einen solchen Satz zu sprechen, ist für uns gewöhnliche Menschen fast vermessen. Nicht nur die Menschen in unserer Umgebung, die Familienmitglieder und Arbeitskollegen, sind Gegenstand dieses Befreiungswunsches, sondern alle Menschen – die guten wie die bösen, Menschen verschiedener Rassen, Sprachen und Fähigkeiten. Aber natürlich auch alle Tiere usw., kurzum, jedes Wesen, das ein fühlendes Herz hat. „Mögen alle Wesen glücklich sein!“ Diesen Satz hört man, wo immer der Buddha geehrt wird, in den Ländern des südlichen und nördlichen Buddhismus, und man kann ihn nicht ermessen. Hätten wir nur unser kurzes, kleines Leben, so könnte man kaum sagen: „Ich gelobe, alle Wesen zur Befreiung zu führen.“ Es ist ein Satz der nur denkbar wird, wenn man viele kommende Leben Zeit hat. Das Große Mitgefühl, wenn es denn in dem obigen Satz enthalten sein soll, braucht wirklich eine große zeitliche Dimension! (Ob sie daran glauben oder nicht, das überlasse ich Ihnen. Aber solange man daran glaubt, kann man entspannt sein. Man muss niemanden in diesem Leben zum Buddhismus bekehren.)

Kann man diesen Satz nicht auch ohne Metaphysik sprechen. Macht er nicht auch für Menschen einen Sinn, die sich nicht so weit auf den Buddhismus einlassen wollen? – Ich denke ja. Wenn man die metaphysische Dimension weglässt, so enthält der Satz einen Aufruf, alle Unterscheidungen zwischen Freund und Feind aufzugeben, und das Leiden aller Wesen ernst zu nehmen. Man unterscheidet nicht zwischen nahen und fernen oder angenehmen und unangenehmen Wesen, ja nicht einmal zwischen bösen und guten. Die Befreiungsabsicht, d.h. der Wunsch Leiden zu lindern und zu beseitigen, bezieht sich auf alle Wesen gleichermaßen. Das ist das Große Mitgefühl des Buddha, das unser Ausgangspunkt war: mögen alle Wesen glücklich sein, ohne Unterscheidung und Bedingung.

Ich glaube, wenn man Meditation macht, kann man ein bisschen erfahren, was damit gemeint ist. In einer tiefen Meditation kann man keinen Hass empfinden, Zorn und Wut lösen sich auf. Das gleiche gilt von umgekehrten Anhaftungen: der Bevorzug bestimmter Menschen, leidenschaftlicher Liebe usw. Das Feuer brennt, es qualmt, aber der Rauch löst sich in Leerheit auf. Dies ist die Erfahrung der Meditation. (Nirwana heißt eigentlich „Erlöschen“). - Unser Problem ist nur, dass wir nach der Meditation aufstehen, und bald wieder ganz ähnlichen Problemen und Affekten wieder gegenüberstehen. Es braucht Übung, Übung, Übung, bis zwischen Meditation und Alltag der Unterschied mehr und mehr verschwindet; Praxis und Leben zusammenfallen. Das ist sehr schwer, und ich kann hier eigentlich auch nur Bücherwissen referieren. Aber in dieser Richtung liegt die Lehre des Zen. (Es ist die Aufhebung unseren kleinen Ichs, das mit der ganzen Welt eins wird.)

Der Shin-Buddhismus, die zweite buddhistische Schule die hier an dem Tempel vertreten ist, geht einen etwas anderen Weg. Der Shin-Buddhismus legt das volle Gewicht auf eine Lehre, die der Buddha für Menschen predigte, die in großen Schwierigkeiten waren. Es geht hier um die Erlösung für Lebenwesen mit den allerniedrigsten Voraussetzungen (極重悪人 gokujū akunin, wie es im Shōshinge heißt). Was passiert, wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang nichts als Unheil produziert hat, und erst im letzten Augenblick merkt, dass er alles falsch gemacht hat. In so einem Falle ist keine Praxis da, die der Mensch angesammelt haben könnte, er steht im Angesciht des Todes mit leeren Händen da. Für solche Menschen predigte des Buddha Śākyamuni den Namen des allergütigsten Buddha, des Buddha Amida. Er hat gelobt alle Wesen zu retten, die seinen Namen rufen, und zwar unabhängig von den Taten, die sie in ihrem Leben vollbracht haben. In Japan gibt es viele Beispiele von Verbrechern, die in der Todeszelle saßen, und noch in ihren letzten Stunden Zuflucht zum Buddha Amida genommen haben. Professor Arai, der da in der letzten Woche das Shin-buddhistische Hōonkō-Seminar gehalten hat, zählte eine ganze Reine solcher Fälle auf. Prominentestes Beispiel ¬- und es hat mich ehrlich gesagt überrascht - ist Tōjō Hideki. Tōjō Hideki war als Kriegspremierminister für den Angriff auf Pearl Hrabour verantwortlich und wurde 1948 als Kriegsverbrecher der ersten Kategorie zum Tode verurteilt. Auch er nahm in seinem Abschiedsgedicht Zuflucht zu Amida. – Viele Menschen, die das Gedicht gelesen haben, gerade auch Japaner, haben es sehr kritisiert. Wie kann ein solcher Mensch, der unendlich viel Leid zu verantworten hat, Scharen junger Männer in den Tod schickte und sein Land in den Abgrund stürzte, sich einbilden, ins Reine Land Amidas zu kommen? – Diese Kritik ist menschlich sehr leicht nachzuvollziehen, aber vom buddhistischen Standpunkt ist sie verfehlt. Das Grundgelübde Amidas sagt eindeutig, dass er jeden erlöst, der seinen Namen ruft. Solange die Zufluchtnahme ernsthaft ist, rettet Amida jeden. Das ist noch einmal ein Ausdruck der Erkenntnis: „Der Geist des Buddha ist das Große Mitgefühl.“ – Wie könnte ein Buddha, der alle Wesen glücklich machen will, Unterscheidungen treffen? Sein Mitgefühl ist unbedingt (無縁の慈).

Der bekannteste Ausspruch des Begründers des Shin-Buddhismus, Shinran Shōnin lautet: „Wenn der Buddha schon die Guten rettet, um wieviel mehr die Bösen.“ – Denken Sie an ein Krankenhaus! Wenn ein Notfall hereinkommt, bei dem es um Leben und Tod geht, widmen sich alle Ärtze nur noch ihm. Der schlimmste Fall ist zugleich der dringlichste. Auch das ist eine Form großen Mitgefühls.

Mögen wir in unserem Leben einen Hauch dieses Großen Mitgefühls erlernen. Und sprechen wir in Dankbarkeit vor dem Großen Lehrer, dem Buddha Śākyamuni, der heute seinen Feiertag hat, das Nembutsu:

NAMO AMIDA BUTSU (Ich nehme Zuflucht zum Buddha des Unermesslichen Lebens)


Fußnoten:
(1) Der Vollständigkeit halber: es gibt neben den Arhats noch die Pratyeka-Buddhas, die ohne die Lehre eine Buddha zu hören, ganz von selbst die Befreiung erlangen. Der sinojapanische Ausdruck für Pratyeka-Buddha heißt engaku縁覚 “Durch die Betrachtung der Bedingungen Erwachter”. Das zeigt nochmals in aller Klarheit, dass man auf diesem Weg die Ursachen des Leidens betrachtet und überwinden will. Diese Lehre scheint so der menschlichen Vernunft zu entsprechen, dass man sie auch ohne Lehrer verstehen kann. (vgl. 十二縁を観して理法をさとり、あるいはさまざまな外縁を観によってさとるゆえに縁覚をいう。岩波仏教辞典 1.Auflage)

(2) Der Ausdruck „Kleines Fahrzeug“ ist nicht unproblematisch, und ich kenne viele Buddhisten, auch Shin-Buddhisten, die ihn ablehnen und nicht in den Mund nehmen würden. Denn man hat ihn früher, d.h. nach dem 19. Jahrhundert, als die verschiedenen Formen des Buddhismus sich nach langer geographischer Trennung wieder kennenlernten, sehr bald auf die Lehren des südlichen Buddhismus angewendet, die bekanntlich die vier Edlen Wahrheiten und die 12gliedrige Kette des bedingten Entstehens besonders üben. Aber ist es nicht absurd, ihnen eine reine Jiri-Haltung vorzuwerfen?
„Kleines Fahrzeug“ und „Großes Fahrzeug“ gehören zur Terminologie des nördlichen Buddhismus. „Kleines Fahrzeug“ bezieht sich auf die Möglichkeit, die Buddhalehre nur für die eigenen Zwecke, die eigene Befreiung , zu nutzen. Man kann die Lehren des nördlichen Buddhismus nicht ohne den Begriff des „Kleinen Fahrzeugs“ systematisch darstellen, und deswegen findet er sich in den Schriften Kūkai, Dōgens, aber auch Shinrans. Man kommt nicht umhin, den Begriff so zu lernen, wie er dort verwendet wird. z.B. Gutokus Note’s CWS p.588
T2648_.83.0647b25-27:
就小乘教有二教
一縁覺教 一麟喩獨覺
二部行獨覺
二聲聞教 初果・預流向。第二果・一來向。第三
果・不還向。第四果・阿羅漢向。八輩也